Wanderung zur ehemaligen Halleschen Hütte zum traurigen Jubiläum 02. bis 04.11.2022

Wahrscheinlich wissen nicht viele Hallenser wo die Hallesche Hütte einmal stand. Bis vor Kurzem wusste auch ich es nicht. Schon des Öfteren war ich in der Ortler-Chevedale-Region in Südtirol unterwegs gewesen. Seit einer Fahrradtour von Landeck in Tirol über Reschenpass, Stilfser Joch und Ofenpass nach Zernez in der Schweiz hatte es mir dieses Gebiet angetan. Seitdem war ich zweimal auf dem Ortler, dem höchsten Berg der Ostalpen, und einmal zu einer Geburtstagsskitour auf dem Monte Cevedale, nicht ahnend, dass die Hallesche Hütte, würde sie noch stehen, in Sichtweite gewesen wäre.

Mittlerweile war es wieder Herbst geworden und die letzten schneefreien Tage sollten nicht ungenutzt bleiben. Beinahe drei Tage hatte ich frei und von meinem Wohnort in Innsbruck dauert es nicht lang, mit Bahn und Bus nach Sulden zu fahren. Im Sommer und Winter ein sehr beliebter und bevölkerter Touristenort, findet man um diese Jahreszeit nicht einmal ein Lokal, um einen Kaffee zu trinken. Dabei hatte ich mich auf dieses südlich der italienischen Grenze viel köstlicher als nördlich davon zubereitete Getränk vor meinem Aufbruch in die Berge schon gefreut. Bekannt ist der Ort auch dafür, dass hier eines der fünf Museen Reinhold Messners, das MMM Ortles, beherbergt ist. Leider habe ich auch dieses nie besucht, da ich bisher beschäftigt war mit Bergsteigen und keine Zeit mehr blieb, mich auch kulturell zu bilden. Nun, die Zeit hätte ich jetzt gehabt, allerdings waren natürlich nicht nur die Restaurants und Hotels geschlossen. Sulden glich einem Geisterort. Trotzdem fuhr der Bus noch regelmäßig. Einige Arbeiter die die besucherfreie Zeit für Instandhaltungen nutzten, waren die einzigen, die außer mir die Verbindung benötigten.

Sehr kurz wurden mittlerweile die Tage, dafür umso länger die Nächte. So hatte ich vorsichtshalber selbst Kaffee eingepackt, um mich lesend in den dunklen Stunden noch ein wenig zu beschäftigen und nicht allzu schlimm wund zu liegen. Immerhin herrschten 13 Stunden finstere Dunkelheit.

Da ich erst morgens nach der Arbeit aufgebrochen war und am frühen Nachmittag um 14°° Uhr in Sulden eintraf, blieb mir nicht sehr viel Zeit. Ausreichend, um einen schönen Schlafplatz zu finden, aber viel zu wenig, um noch an diesem Tag zum Eisseepass zu gelangen.

Verschiedene Wege führen zur ehemaligen Halleschen Hütte an diesem so verheißungsvoll klingenden Ort. Selten steige ich den gleichen Weg ab wie auf. Nach einem Blick auf die Landkarte hatte ich mich schnell entschieden, den Weg von Sulden über die Eisseespitze zu nehmen, oben auf dem Pass zu nächtigen und dann auf der anderen Seite über das Martelltal nach Gand abzusteigen.

Meine freien Tage konnte ich nicht ganz frei wählen. Vor Abfahrt sah ich mir den Wetterbericht an. Für den Tag meines Aufbruchs war noch, wie die Tage zuvor, strahlender Sonnenschein gemeldet. Es sollte nun aber kalt werden und für den nächsten Tag waren bereits zehn und für den nachfolgenden über 40 cm Neuschnee angesagt.

Oben schlafen und eingeschneit werden ist eine Sache, aber durch 40 cm Neuschnee über 20 km absteigen in teils steilem Gelände, eine andere. Schweren Herzens verwarf ich also diese Idee schon auf der Hinreise.

Zwei Nächte in dieser großartigen Landschaft hatte ich allemal zu verbringen. Eine auf der suldener, die zweite auf der marteller Seite des Passes. Der Optik halber entschied ich mich, die erste Nacht an der geschlossenen Hintergrathütte auf 2661 m zu verbringen. In dem kleinen, halb gefrorenen See neben der Hütte spiegeln sich der vergletscherte Ortler, Monte Zebrù und die Königsspitze. Noch war der Himmel klar und es war beinahe windstill als ich mein Zelt aufschlug. Während ich mit meinem nicht ganz italienischen Kaffee an der Hütte saß und las ging der Mond über der Eisseespitze auf und erleuchtete hell den Schnee auf den Bergen.

Unterhalb des Gipfels befindet sich die Schaubachhütte, fast 100 m unterhalb der Hintergrathütte. Von dort aus startet der Steckner Weg, benannt nach dem ersten Vorsitzenden des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins der Sektion Halle/Saale und Vorsitzender des Deutsch-Österreichischen Hüttenausschusses von 1895 bis 1918. Die ersten zweihundert Höhenmeter des nordseitigen Aufstiegs von der Hütte zum Grat konnte ich von meinem Standpunkt aus gut mit den Augen verfolgen. Mist, das war echt zu viel Schnee im aufsteilenden Bereich des Weges. Noch dazu war der Wetterumschwung angekündigt. Sollte ich also nicht nur die Übernachtung auf dem Eissseepass sondern auch den kompletten Besuch des Gedenkortes abblasen?

Immerhin ging links davon, also in östlicher Richtung, ein wesentlich flacherer und sehr einfacher Weg über das Madritschjoch auf die andere Seite. Letztendlich würde ich auch über diesen Weg zur Zufallhütte und schließlich zur Bushaltestelle in Gand gelangen. Je länger ich den schneereichen steilen Bergkamm beobachtete, desto mehr freundete ich mich schließlich mit dem Gedanken an.

Für den Weg von der Schaubachhütte zur Eisseespitze waren zweieinhalb Stunden angegeben. Ich schätzte, dass ich von der Hintergrathütte bis zum Beginn des Weges zwei Stunden benötigen würde. So hätte ich also für den kommenden Tag mehr als genug Zeit, über den einfacheren Weg weit genug absteigen zu können, dass mich die 40 cm Neuschnee nicht allzu sehr stören sollten.

Während der Nacht nahm der Wind zu. Es war immer noch klar, nur einige Wolken wurden von den Gipfeln der höheren Berge festgehalten und am Morgen von den Strahlen der aufgehenden Sonne rosarot gefärbt.

Von der einen zur nächsten Hütte führte ein Gletscherpfad über die Zungen von Sulden- und Königswandferner. Nach zwei Stunden über Schnee und Geröll erreichte ich den Abzweig zum Steckner Weg. Aus der Nähe sah es gar nicht mehr so schlimm aus. Zu Beginn ist es ein ganz normaler Wanderweg. Umdrehen kann man immer. Zur Not könnte ich auch an der Schaubachhütte übernachten und von dort aus am nächsten Morgen den ganz einfachen Abstieg nach Sulden zurück wählen. Also gut. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Ich musste mich beeilen. Wolken rückten näher. Nur die Eisseespitze ragte noch in den blauen Himmel. Im White Out wollte ich mir nicht meinen Weg auf der unbekannten Seite nach unten bahnen. Bevor ich schnell weiter ging, genoss ich an der Steckner Gedenktafel und dem liebevoll hergerichteten Wegweiser der Sektion Halle im zunehmenden Wind meine Frühstückspause.

Nach den ersten Schritten im Schnee zog ich meine Grödel an. Sogar alte Spuren waren hier zu erkennen. Tatsächlich waren irgendwann vor mir schon zwei Menschen hier hinauf gestapft. Der Weg war einfach. Bald kam ich aber an den sich verschmälernden Grat und geriet immer wieder in stärker werdenden Gegenwind. Die Markierungen waren immer noch gut zu erkennen. Kleine orangene Punkte an den Felsen. Nun erreichte ich die Stelle, die von meinem Nachtlager aus etwas bedrohlich gewirkt hatte. Aha, eine Drahtseilversicherung, sogar zwei. Hier war es also noch einfach. Dann stand ich auf einem Gipfel, einem VOR-Gipfel. Ein überwächteter Grat baute sich vor mir auf. Das war die Stelle, von der ich gehofft hatte, der Weg ginge an ihr irgendwie vorbei. Er ging darüber hinweg. Immer noch war die Markierung gut zu sehen. Nur war der schmale Grad von mehr oder weniger lockerem Schnee bedeckt und fiel zu beiden Seiten tief und steil ab. Die Spuren endeten hier. Die beiden waren also wieder umgekehrt. Sollte ich das auch tun? Nur noch 20 Höhenmeter. Es sah machbar aus. Genau genommen war es nur eine Stelle, die mir etwas Angst einflößte. Die Schneeflanke war dort auf zwei Meter recht steil und keine Handgriffe in Reichweite. Man muss die Tritte sehr, sehr präzise setzen und das Gewicht genau über dem Schwerpunkt halten. Es sollte gehen. Nur zwei Meter.

Und es ging auch. Plötzlich stand ich auf einem schlohweißen, windigen Plateau. Zwei Stunden nachdem ich in den Weg eingestiegen war. Das Gipfelkreuz wurde anscheinend von einem auf Grabsteine spezialisierten Steinmetz aus weißem Mamor gehauen. Nicht mein Grabstein. Die Inschrift besagt: Eisseespitze – Cima Del Lago Gelato, 3230 m, 46°28,873´N 10°36,543´E, Bergrettung Sulden, Deutscher Alpenverein Sektion Halle (Saale).

Es war wunderschön. Nach Nordwesten war das Dreigestirn der hohen Dreitausender mittlerweile wolkenumspielt. Einen Moment genoss ich diese wundervolle Aussicht und machte mich dann an den Abstieg entlang von Steinmanderln und aus dem Schnee ragenden Stäben. Als ich unten an einer Hinweistafel ankam bemerkte ich, dass es einfacher und schneller gewesen wäre, direkt über den Grad zu gehen. Meinen Rucksack ließ ich an der Tafel und ging nur mit Kamera bewaffnet die letzten Höhenmeter zum Eisseepass. Ein perfekter Ort für eine Hütte.

Einige wenige Ruinen sind noch übrig. In der Mitte ein großes Denkmal das aussieht, als wäre es aus den Überresten des Kamins errichtet worden. Zwei Tafeln zieren es. Auf der Ostseite eine Kupfertafel mit dem Halleschen Emblem und einem Bild der alten Hütte sowie der Aufschrift 125 Jahre Sektion Halle (Saale), Hallesche Hütte 1897 – 1918.

Auf der anderen Seite ist die Geschichte kurz zusammengefasst:


1897: Nach dem Becherhaus 3.195, die höchste Schutzhütte in den deutschen Alpen auf 3.133 m Höhe

1915-18: wichtige österr./ung Truppenunterkunft der Gebirgssoldaten im 1. Weltkrieg.

3./4.11.1918 am letzten Kriegstag durch Brand zerstört.


Errichtet im Sommer 2011 von der AVS Sektion Martell und der DAV Sektion Halle a.d. Saale zum 125. Sektionsjubiläum.


(Das Ganze nochmal auf Italienisch)


Im Südosten verdunkelten mehr und mehr düstere Wolken den Himmel und nahmen die Sicht auf die umliegenden Gipfel. Lange konnte ich leider nicht bleiben. Bis zur Zufallhütte wollte ich noch absteigen. Von dort führt ein Fahrweg bis zur Straße hinab. So könnte ich auch bei richtig ungemütlichem Wetter am nächsten Tag noch sicher ins Tal gelangen. Immerhin waren es noch fast zehn Kilometer und knapp 1000 Höhenmeter bis dahin. So machte ich mich schweren Herzens auf die Socken. So gern hätte ich eine Nacht dort oben verbracht. Aber was soll´s. Der Berg steht sicher später immer noch.

Weiter oben, im Süden, sah ich nun eine weitere Hütte. Eine überdimensioniert große Hütte. Das Refugio Casati, wie ich auf meiner Karte und später auf verschiedenen Wegweisern sah. Ist diese nun mit 3269 m Höhe die höchste?

Wesentlich einfacher als der Weg hinauf ging es nun, immer noch durch Schnee, teils knietief, hinab in das Martelltal. Hier war ich erst im Februar, beim Aufstieg zum Monte Cevedale. Die herbstlichen Farben zeichneten mit den dunkelgrauen Wolken ein düsteres Bild. Der Wind war auf dieser Seite viel schwächer. Es war ganz ruhig. Hin und wieder plätscherte ein Bach über den Weg. Kleine, gefrorene Seen zierten die Landschaft. Zu klein, um die Namensgeber des Berges und des Passes zu sein.

Lang lief ich durch schottisch anmutende Landschaft. Gelbbraunes Gras überzog die Hügel, unterbrochen von schwarzen Granitplatten. Unter einem schützenden Fels lies ich mich schließlich nieder und bereitete einen Kaffee. Bezaubernde Ruhe legte sich über die Welt. Ich genoss jeden Augenblick. Kein Streß! Es war nicht mehr weit und noch mindestens zwei Stunden bis die Sonne gegen 17°° Uhr ihr letztes fahles Licht von der feuchten Erde zurück zog.

Über Nacht schneite es bereits 15 cm und der Schneefall verstärkte sich immer weiter. Mein vereistes Zelt passte schon nicht mehr in seine Hülle. Unter dem Dach eines Nebengebäudes der Zufallhütte erwärmte ich den letzten Kaffee des Vorabends und taute meine vom Zusammenräumen erkalteten Hände auf. Während ich den Fahrweg entlang ging, flogen Schneeflocken in mein Gesicht. Als ich am Zufrittsee ankam, bog ich nach rechts auf den Marteller Talweg entlang dessen Ufer ab. Es ist ein breiter, fahrradgerechter Weg und trotz der Schneedecke leicht zu gehen. Das andere Ufer war nicht auszumachen, so dicht fielen die Flocken.

Nach mehr als zwei Stunden überquerte ich den Staudamm und gelangte zur Straße. Der Wanderweg sollte hier weiter gehen, ich fand ihn aber nicht und folgte der Straße. Ein Dammarbeiter fuhr gerade im Auto zu Tal und bot mir an, mich mitzunehmen. Nachdem es nichts mehr zu sehen gab und ich befürchtete, dem Asphalt weiter folgen zu müssen, nahm ich die nette Einladung gern an. Der Mann nahm mich bis Latsch mit wo ich, nachdem ich in der Wartehalle mein Zelt vom Eis befreien konnte, in den Zug nach Meran stieg.

Ein schöner Ausflug!

Als ich später die Bilder ansah bemerkte ich, dass ich genau zum 124. Jahrestag der Zerstörung der Hütte an dem geschichtsträchtigen Ort angekommen war.


Beim Abstieg in der Nähe der Zufallhütte
Beim Abstieg durchs Martelltal
Rechts Eisseepass mit Suldenspitze im Hintergrund, links, auf dem Passo Cevedale, steht seit 1922 die Casati Hütte auf 3269 m
Eisseepass, im Hintergrund die Suldenspitze
Denkmal, im Hintergrund Eisseespitze, rechts Blich ins Martelltal
Denkmal und einige Mauerreste. Rechts im Bild das Martelltal
Eisseespitze
Gipfelaufbau der Eisseespitze
Beginn des Wanderweges an der Schaubachhütte
Im Hintergrund der Ortler
Blick von der Hintergrathütte. In der Bildmitte das Eisseejoch, links davon, über den Grat die Eisseespitze. Unten sieht man die Schaubachhütte, hinter dieser führt der Weg im Zickzack den Rücken hinauf und mündet schließlich auf den Grat zur Eisseespitze.
Zeltplatz an der Hintergrathütte. Im Hintergrund M. Zebru und Ortler


Eingestellt von Katrin

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